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  • AutorenbildNicole Hoenig

Ess-Geschichte (3): ‚Ich bin gut genug‘ - Mit alten Rollenbildern auch die Essstörung loslassen

Die Geschichte von Anna und ihrem Ausstieg aus der Bulimie

Anna* ist 29 Jahre alt. Vor 5 Jahren ist ihr Vater gestorben, und seitdem tröstet sie sich mit Essen. Essen ist für sie auf einmal nicht nur einfach Nahrungsaufnahme und Sättigung. Essen ist für Anna in diesem Moment Trost und auch Betäubung all der negativen Gefühle, die mit dem Tod ihres Vaters zusammenhängen.


Durch das viele Essen nimmt sie zu.

Bis sie entdeckt, dass sie mit einer Kombination aus Essanfällen und anschließendem Erbrechen ihr Gewicht regulieren kann. Das emotionale Essen ist zu einer Bulimie geworden.

Als sie durch die Bulimie wieder abnimmt, bekommt sie Bestätigung von außen, Komplimente für die Gewichtsabnahme. Also macht sie weiter.


Sie beginnt ein Lehramtsstudium. Das Studium ist anstrengend und verlangt ihr so einiges ab. Also muss wieder einmal das Essen herhalten. Diesmal als Bewältigung von Stress im Studium.


Irgendwann begreift sie, dass sie aus dieser Spirale von Essen und Erbrechen aussteigen muss. Zu gravierend sind die Nebenwirkungen der Bulimie (Mangelernährung, Entzündungen der Speiseröhre, Vergrößerung der Speicheldrüsen, Haarausfall). Sie hört zeitweise auf, zu erbrechen, leidet aber immer noch unter Essanfällen. Ihr Freund rät ihr, sich Hilfe zu suchen. Und so kommt Anna zu mir in die Ernährungstherapie.


Verbotene Lebensmittel integrieren


Schon in unserem ersten Gespräch wird Anna klar, dass sie sich viele Lebensmittel verbietet. Sie hat von ihrer Familie "Ernährungsregeln" mit auf den Weg bekommen wie "Nudeln machen dick" oder "Zu viele Kohlenhydrate sind schlecht". Sie beginnt, zu jeder Mahlzeit eine Handvoll Nudeln dazuzugeben, bis sie merkt, dass sie nun mit Nudeln entspannter umgehen kann. Sie machen ihr keine Angst mehr, weil sie merkt, dass nichts Schlimmes passiert, wenn sie Nudeln isst. Auch mit anderen Lebensmitteln übt sie, das "Verbotene" in ihren Ess-Alltag zu integrieren. So wird das Verlangen nach diesen angeblich "ungesunden" Lebensmittel von Mal zu Mal weniger.


Sie gibt sich die "bedingungslose Erlaubnis, zu essen", ein wichtiger Schritt in der Therapie von Essstörungen. Trotzdem sind die Stimmen laut, die ihr ein schlechtes Gewissen machen. Anna bemerkt, welche Bedingungen sie mit dem Essen verknüpft. "Ich habe etwas geleistet, deshalb darf ich jetzt essen." Um sich abzulenken von dem Drang, zu essen, geht sie raus, macht Sport, fährt Fahrrad. Trotzdem kommen die Essanfälle immer genau dann, wenn sie alleine ist. Manchmal wartet sie schon darauf, dass ihr Freund das Haus verlässt, um sich dem nächsten Essanfall hinzugeben.


Leistungsdruck als Auslöser


Wir schauen hin, welche Auslöser Anna wahrnehmen kann, wenn sie diesen Drang nach Essen verspürt. Anna gerät z.B. unter Stress, wenn sie bewertet wird. Sie hat einen hohen Anspruch an sich selbst, was Noten und Leistung angeht. Und sie mag es überhaupt nicht, von anderen abhängig zu sein. Sie spürt einen extremen Widerstand, wenn sie z.B. in der Uni das Gefühl hat, nicht korrekt beurteilt worden zu sein, hat Probleme damit, die herrschenden Hierarchien anzuerkennen. Wenn sie dagegen angeht, hat sie das Gefühl, dass es für sie negative Konsequenzen haben könnte. Dabei hat sie einen extrem starken Gerechtigkeitssinn.


Wir schauen hin, welche Glaubenssätze Anna von zu Hause mitbekommen hat.


Negative Glaubenssätze aus dem Elternhaus


Es stellt sich heraus, dass ihre Eltern sehr leistungsorientiert waren / sind. Anna hat schon früh begonnen, dagegen zu rebellieren. "Mit der Einstellung kommst Du nicht weit im Leben!", hat sie dann zu hören bekommen. Sie hat eine Schwester, mit der sie von klein auf ständig verglichen wird.


Anna kommt aus einem kleinen Dorf, in dem noch die Einstellung herrscht, dass Frauen allenfalls Sekretärinnen sein sollten. Von ihrer Mutter hat sie den Glaubenssatz mitbekommen, dass Frauen "schön und dünn" sein sollten, damit sie einen Mann finden, der sie versorgen kann. Von der 9-jährigen Anna darauf angesprochen, dass die Mutter doch selbst mittlerweile einen kleinen Bauch hat, bekommt sie zu hören: "Ich habe ja Kinder bekommen, daher darf ich jetzt dicker sein. Ich habe ja meine Leistung erbracht."


Die Mutter füllt ihre Rolle als Hausfrau aus und kocht und backt viel. Die Familie muss alles brav aufessen. Da beides nicht wirklich zusammenpasst, beginnt Anna mit 10 Jahren ihre erste Diät, auch um dem Anspruch ihrer Mutter gerecht zu werden.


Sie lernt zu Hause, dass sie erfolgreicher sein wird, wenn sie schlank ist. Sie soll damit einem ganz bestimmten Frauenbild entsprechen und gleichzeitig eine hohe Leistungserwartung erfüllen.



Frau sitzt geschminkt und mit unglücklichem Gesichtsausdruck an einem Schreibtischnund hält einen roten Telefonhörer in der Hand. In der Hand hat sie einen Keks.
Frauen als Sekretärinnen? Nicht, wenn dies die einzige Option ist.

Glaubenssätze auflösen


Als Anna einmal bewusst geworden ist, dass ihr ganzes Essverhalten von diesen negativen Glaubenssätzen geprägt ist, beginnt sie, alle die ihr einfallen, aufzuschreiben. Es wird eine Liste mit 68 (!) Glaubenssätzen. Der stärkste davon ist "Ich bin nicht gut genug!"


Sie beginnt, all die negativen Glaubenssätze umzuformulieren. Jetzt, wo sie ihr bewusst geworden sind, spürt sie eine große Erleichterung. Sie schaut sich den alten Schmerz noch einmal an, kann ihn fühlen und dann gehen lassen.


Anna befreit sich nicht nur von den alten Denkmustern, sondern auch von ihrer Waage und von ihrem Ganzkörper-Spiegel im Flur. Sie hat realisiert, dass sie sich nicht über ihre Figur oder ihr Aussehen definieren muss.



Angenommen in einer fremden Familie


Der letzte "Gamechanger" auf Annas Weg ist eine Reise zu der Familie ihres Freundes nach Istanbul. Hier wird sie, die blonde Deutsche, herzlich empfangen. Sie muss sich nicht verstellen, sondern darf sich ganz so zeigen, wie sie ist.


Sie erfährt, wie heilsam und wohltuend genussvolles und leckeres Essen innerhalb einer Gemeinschaft sein kann. In dieser Familie gibt es keine Essenregeln, kein schlechtes Gewissen, keine Diätkultur. Und sie darf auch NEIN sagen, wenn sie satt ist. Sie wird so akzeptiert, wie sie ist.


Anna kann hier mit Freunden und Fremden zusammen essen, ohne dass sich anschließend das schlechte Gewissen meldet. Sie kann sich entspannen. Sie ist angekommen.


Zurück in Deutschland ist sie selbstbewusster geworden, kann auch ihrer Familie selbstsicherer gegenüber treten.


Anna kennt ihre "Schwachpunkte". Die negativen Glaubenssätze sind noch nicht vollständig verschwunden. Aber Anna hat sie sich im Laufe der Ernährungstherapie bewusst gemacht, wird aufmerksam, wenn sie sich melden und wenn sie zu stark werden. Und sie kann dagegen arbeiten, mit Glaubenssätzen, die sich für sie richtig gut anfühlen.



Annas positive Glaubenssätze: - Ich bin frei, zu tun und zu sagen, was ich denke! - Ich bin richtig, so wie ich bin! - Ich bin gut genug! - Ich darf meinen eigenen Weg gehen. - Ich darf ein glückliches Leben führen. - Ich werde für das geliebt, was ich bin!


Anna hat den Weg raus aus der Bulimie geschafft. Sie kann mit Gefühlen und Erwartungen besser umgehen und dadurch entspannter essen. Das Bedürfnis nach einem Essanfall ist weg. Und auch der Freund darf ruhig aus dem Haus gehen, ohne dass Anna gleich den nächsten Essanfall plant.


Sie wird weiter üben, intuitiv und bewusst zu essen. Dieser Weg ist einer, der andauert und der nachhaltig ist. Alles Gute, Anna!




 

* Anna gibt es wirklich und hat mir die Erlaubnis gegeben, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie heißt aber natürlich anders.



 

Wenn Du von einer Essstörung betroffen bist, hole Dir Hilfe in der professionellen Ernährungstherapie und im Coaching. Ich gebe Dir Unterstützung zum Alltag mit einer Essstörung und Hilfestellung nach der Entlassung aus der Klinik.

HIER gibt es mehr Infos dazu.


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